Rede von Hans-Peter Bartels vor dem Deutschen Bundestag am 19. Oktober 2006

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen von den Liberalen, wir stehen ja nicht am Anfang der Debatte, sondern wir haben bereits eine Praxis, hier im Parlament mit der sich verändernden Welt umzugehen. Ich stelle fest, dass es einen relativbreiten Konsens hier in diesem Hause gibt, mindestens getragen von vier Fraktionen, zu denen Ihre Fraktion gehört.

Wir sind uns darin einig, dass sich in der sich verändernden Welt neue Gefahren entwickeln. Wir sind uns darin einig, dass wir einen umfassenden Sicherheitsbegriff vertreten wollen. Wir behaupten nicht, Sicherheit sei allein Verteidigung oder Militär. Selbst in den Einsatzgebieten, wo das Militär eine große Rolle spielt, gibt es inzwischen eine vernetzte Sicherheitsarchitektur. Ich erinnere an die PRTs in Afghanistan. Aber auch all das, was wir tun, bevor es überhaupt zu bewaffneten Konflikten kommt, ist inzwischen Bestandteil einer umfassend verstandenen Sicherheitspolitik. Ich bin froh, dass wir das hier im Hause breit tragen.

Wir bekennen uns gemeinsam zu einem aktiven Multilateralismus. Wir wollen, dass viele daran teilnehmen, unsere Welt sicherer zu machen. Wir haben eine europäische Sicherheitsstrategie, die so genannte Solana-Strategie von 2003, die ein bisschen etwas anderes formuliert als die amerikanische Sicherheitsstrategie, diese aber auch ergänzt und in einer Welt, die Gestaltung braucht, für ein selbstbewusstes Europa wirbt. Deutschland ist ein Teil davon. Was in der Solana-Strategie formuliert ist, wird hier breit getragen und ist Bestandteil unseres sicherheitspolitischen Selbstverständnisses.

Wir wollen die kollektiven Sicherheitssysteme stärken: die OSZE, die NATO, die UNO. Es ist eben nicht mehr nur die NATO; das hat sich verändert. Ich glaube, auch das wird in diesem Hause breit getragen. Wir stehen also nicht am Anfang der Debatte über eine neue Sicherheitspolitik und das Weißbuch wird sie auch nicht abschließen. Das Weißbuch ist ein Meilenstein, eine Etappe in diesem Diskussionsprozess, der aus gegebenem Anlass nun schon einige Jahre läuft.

Wir tragen gemeinsam die Verantwortung für Auslandseinsätze. Ob es sich um eine kleine oder um eine große Koalition handelt: Wir bemühen uns, dass der Rückhalt für unsere Soldaten im Einsatz in diesem Hause so breit wie möglich ist. Das ist inzwischen eine Tradition geworden.

Wenn ich das Wirken der Verteidigungspolitiker betrachte, dann komme ich zu dem Schluss, dass wir ein gemeinsames Interesse an einer deutschen wehrtechnischen Industrie in einem selbstbewussten Europa haben. Dieses Ziel hat die vergangene Regierung verfolgt. Diese Regierung setzt die dazugehörige Politik fort. Dabei wird sie von diesem Parlament unterstützt.

Unser Weg in eine Europäisierung der Sicherheitspolitik wird in diesem Haus ebenso breit unterstützt. Es geht nicht mehr darum, nur national zu denken und sich zu überlegen, was wir für unsere eigene Sicherheit tun können. Es geht vielmehr darum, was wir für ein zusammenwachsendes Europa tun können, wie wir Kosten sparen und Verantwortung teilen können. Das sind die Erfahrungen aus den vielen Jahren, die seit dem Erscheinen des letzten Weißbuchs vergangen sind.

Es gibt auch ein paar Unterschiede in diesem Haus. Gelegentlich wird die Wehrpflicht thematisiert. Die Mehrheit ist relativ groß, dass wir sie beibehalten. Aber die Unterschiede in dieser Frage kann man anhand einer Festlegung im Weißbuch diskutieren. Es gibt auch Unterschiede in Fragen der nuklearen Teilhabe. Auch darüber muss man weiter diskutieren.

Außerdem gibt es Unterschiede in der Auffassung, an welchen Begriffen man sich sozusagen entlangarbeiten will. Der Begriff vomnationalen Interesse hört sich für mich so an, als handele es sich um einen Begriff aus dem 19. Jahrhundert. Er suggeriert, unser Interesse sei gegen die Interessen Frankreichs und Großbritanniens gerichtet. Diese Art von konkurrierenden Interessen gibt es – Gott sei Dank! – nicht mehr. Wir haben gemeinsame Interessen und teilen die gemeinsamen Werte mit unseren Freunden und Partnern.

Wir versuchen beispielsweise nicht, auf Kosten anderer Rohstoffe zu sichern. Manchmal wird mit großem Pathos behauptet, man solle einmal ehrlich sein und zugeben, dass es doch um Rohstoffe gehe. Nein, es geht nicht um Rohstoffe: nicht auf dem Balkan, nicht in Afghanistan und auch nicht dann, wenn wir im Bundestag über den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von Bündnissen, in denen wir Mitglied sind, entscheiden. Rohstoffe sind für alle Länder eine lebenswichtige Ressource. Wir wollen eine offene Welt und Zugang von möglichst vielen zu den Wohlstandsquellen. Darin stehen wir nicht in Konkurrenz zu anderen.

Mir ist also der Begriff vom nationalen Interesse manchmal zu anachronistisch am 19. Jahrhundert ausgerichtet. Ich würde ihn lieber durch den Begriff „politische Maximen“ ersetzen. Deutschlands sicherheitspolitisches Handeln unterliegt politischen Maximen. In diesem Zusammenhang kann man auf das verweisen, was gemeinsam getragen wird: der Multilateralismus, der umfassende Sicherheitsbegriff und unsere Vorstellungen von der Weiterentwicklung kollektiver Sicherheitssysteme.

Zum Bereich der politischen Maximen gehört die Schaffung einer offenen Welt, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dabei wollen wir Demokratie nicht exportieren, sondern wir wollen uns gemäß unseren eigenen Maßstäben im Ausland verhalten. Wir erwarten übrigens von unseren Verbündeten, dass sie dies genauso tun.

Es gibt nicht nur politische Maximen deutschen Handelns mit Blick auf eine zusammenwachsende Welt. Es gibt auch eine besondere deutsche Verantwortung. Das haben wir in der Debatte über den Libanon-Einsatz gespürt. Es war nicht leicht, den deutschen Beitrag so zu formulieren, dass er der deutschen Verantwortung in allen Richtungen gerecht wurde. Es ist uns gut gelungen. Der Grund für unser Handeln war nicht das deutsche Interesse an Rohstoffen im Nahen Osten, sondern die besondere deutsche Verantwortung, die wir übernommen haben. Ich denke, das wird sich auch im Weißbuch niederschlagen. Darin wird es nicht den anachronistischen Interessenbegriff des 19. Jahrhunderts geben.

Noch ein Wort zur strittigen Frage des Bundeswehreinsatzes im Innern. In der Frage der Bundeswehr als Ersatzpolizei liegen wir nicht weit auseinander. Niemand der verantwortlichen Sicherheitspolitiker will, dass die Bundeswehr an den Stellen Polizeiaufgaben übernimmt, an denen die Polizei zu wenig Personal hat. Das kann nicht die Richtung unserer gemeinsamen Politik sein. Es geht nicht um die Absicherung von Veranstaltungen, bei denen der Veranstalter selbst nicht genug Personal für Ordner stellen kann, bei denen die Landespolizei nicht ausreicht oder bei denen die hinzugezogene Bundespolizei nicht ausreicht. Wenn dann die Bundeswehr gebraucht würde, würde ich sagen: Sagen wir lieber das Fernsehgucken im Freien ab. Das kann man auch tun.

Darum geht es also nicht. Wenn wir darüber diskutieren, dass das Grundgesetz an der einen oder anderen Stelle eine Veränderung, eine Präzisierung, eine Verankerung neuer gesetzlicher Regelungen braucht, dann geht es um die Luft- und die Seesicherheit und um Sicherheit für die politisch Verantwortlichen, Entscheidungen auf verfassungsrechtlich vernünftiger Grundlage zu treffen. Da sind wir für Änderungen offen. Ich glaube, diese Debatte fängt nicht erst jetzt an und wird mit dem Weißbuch auch nicht abgeschlossen sein. Sie wird aber im Weißbuch einen vernünftigen Niederschlag finden.

Was an Land nötig und möglich ist, das ist mit Art. 35 Grundgesetz, Amtshilfe, und natürlich mit der Reserveregel, die das Grundgesetz inzwischen seit fast 40 Jahren hat, geregelt. Damals war sie stark umkämpft, es wurde um sie hart gerungen, aber jetzt steht sie seit Jahrzehnten im Grundgesetz: die Notstandsverfassung. Sie gilt und kann im äußersten Notfall greifen. Gott sei Dank ist das bisher nie der Fall gewesen. Wir hoffen, dass das so bleibt. Aber diesen letzten Rettungsanker, den haben wir jetzt schon im Grundgesetz stehen.

Ich glaube, wir brauchen nicht künstlich einen Streit zu suchen, da der Konsens in diesem Haus und in der großen Koalition relativ groß ist. Vermutlich wird durch das Weißbuch auch deutlich werden, wie groß er ist. Die Debatte dazu führen wir nächste Woche Donnerstag, aber heute haben wir darüber geredet, dass es gut ist, diese Debatte über das Weißbuch anzufangen und sie über die Sicherheitspolitik fortzusetzen, die Deutschland in einer zusammenwachsenden Welt gestalten will.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

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