Beitrag von Hans-Peter Bartels, MdB in der Monatszeitschrift "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte" (10/1999)

„Euch gibt′s ja gar nicht, die Jusos kannst du vergessen, wo sind denn die Jungen in der SPD, siehste, gibt′s nicht!“ So hat in den 80er und 90er Jahren eine besonders ehrgeizige, zahlenstarke und organisationskräftige Parteigeneration, das heißt, die SPD-Kohorten der gegenwärtig Um-54-jährigen, sich die Nachwachsenden vom Hals gehalten – durch öffentliche Leugnung ihrer Existenz: Mit der Jugend von heute ist nichts los!

Es sind die junggebliebenen 68er, die sogenannten „Enkel“ (von Willy Brandt), die als kritische Juso-Bewegung damals den Marsch in und durch die Institutionen antraten und heute selbst diese Institutionen – Regierungen, Parlamente, Parteiapparat, Medien und Wissenschaft – so komplett repräsentieren wie keine Generation vor ihnen. Ihr Verdrängungswettbewerb gegen Andersaltrige, Ältere wie Jüngere war radikal erfolgreich. Seit dem 27. September 1998 scheinen nun auch die inneren Ausscheidungskämpfe der Enkelelite abgeschlossen: Nicht der Oskar, nicht der Björn, nicht der Rudolf, sondern der Gerhard ist Kanzler geworden. Die antagonistische Kooperation der jungsozialistischen Institutionenmarschierer, ihr gemeinsamer Aufstieg in den Landesverbänden, in den Ländern, in der Bundespartei, im Bund ist zu Ende, am Ziel. Und Björn und Oskar spielen schon gar nicht mehr mit.

Damit wandeln sich Perspektive und Bewegungsart. Nun gilt es, die Position zu halten, vielleicht noch durch Vakanzen hier und da individuell weiter aufzurücken. Das Gesamtgenerationenprojekt (nach dem alten Juso-Slogan ) „Wir sind die SPD der 90er Jahre“ ist verwirklicht, alle Akteure stehen auf der Bühne, alle Rollen sind verteilt, noch zehn Jahre – maximal – bis zur Rente. Langsam wendet sich der Blick nach hinten, nach unten, in die rückwärtigen Reihen: Kommt da noch was? Und könnte man sich für die letzten Stellungsgefechte unter seinesgleichen mit irgendwelchen Nachrückenden verbünden?

Zwischen den Angekommenen, Eingesessenen und denen, die es in den 80er und 90er Jahren eigentlich nicht geben durfte, klafft eine riesige Lücke. Mit einem Wort von Willy Brandt: Die SPD hat in den 80ern eine ganze politische Generation verloren, sie fehlt im Bild der Partei, und sie orientiert sich bei Wahlen schwächer an der SPD als Gleichaltrige früher. Einiges von diesem aufgegebenem Terrain hat derweil die neue Antiparteien-Partei der Grünen besetzt.

Gewiß, aus dem Osten kommen manch andersartige Sozialdemokraten, kaum welche mit 68er Sozialisation, etliche sogar nach SPD-Maßstäben ungewöhnlich jung. Auch zur Erfüllung der Frauenquote fällt die Wahl gelegentlich, wenn schon denn schon, auf jüngere Genossinnen. Am besten zieht die Doppel- oder Dreifachquote. (Das einzige jüngere Mitglied der engeren Bonner Fraktionsführung erfüllt selbstverständlich alle drei „Minderheiten“-Kriterien.)

Und allmählich, nach zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren innerparteilicher Enkel-Hegemonie (je nach Landesverband oder Bezirk) ändert sich die Rhetorik gegenüber dem Nachwuchs. Die frühe Thematisierung auf dem Münsteraner Parteitag 1988 („Eine Partei ohne Jugend ist eine Partei ohne Zukunft“) blieb noch völlig folgenlos; damals wurde mit symbolischem Pomp eine 34-jährige Jungsozialistin in den Parteivorstand gewählt Ruth Winkler, die, als sie sechs Jahre später wieder ausschied, immer noch das jüngste Mitglied in dem Gremium war.

1997 beschloß dann der Kölner Parteitag eine Art Junge-Leute-Quote: Zehn Prozent der aussichtsreichen Listenplätze sollten bei Landtags- und Kommunalwahlen an Unter-35-jährige gehen, bei der bevorstehenden Bundestagswahl zumindest an Unter-40-jährige. Das, immerhin, wurde erreicht: Die Partei stellte 50 Kandidaten diesseits der midlife crisis auf, machte damit sogar ein bißchen Wahlkampf („U 40“) und brachte 36 durch; dies sind bei 298 sozialdemokratischen Abgeordneten zwölf Prozent, gut doppelt soviel wie 1994. In manchen Landtagsfraktionen findet sich freilich auch heute niemand, der diese hohe Altersgrenze der reiferen Jugend unterbietet; und kaum ein Staatssekretär oder Minister irgendwo, der als young hopeful durchgehen könnte.

Die Youngsters in der Bundestagsfraktion

Aber einige tauchen nun auf, neu in der neuen sozialdemokratischen Regierungsfraktion. „Euch gibt′s ja gar nicht“ geht nicht mehr. Der Reflex derer, die immer noch lieber unter sich bleiben wollen, tönt jetzt so: „Was wollt ihr denn? Ihr wißt doch gar nicht, was ihr wollt!“ Kann sein. Die Neuen, die Jüngeren, zwischen 23 und 40, kommen nicht als Paket, sondern jeder für sich. Keine machtvolle Parteijugendbewegung hat sie durchgedrückt (wie damals die Engholms und Gansels und Kuhlweins), der sozialdemokratische Erdrutschsieg half, manch aussichtslos scheinenden Youngster-Wahlkreis glücklich zu gewinnen.

Die jetzt neu kommen, sind nicht eine, sondern genaugenommen zwei politische Generationen, zum ersten langjährig Juso-Erfahrene aus den 80er und frühen 90er Jahren. Viele Mitstreiter ihrer Jahrgänge sind auch, aber anders in die Politik gegangen, haben sich als wissenschaftliche Mitarbeiter von den wachsenden Enkel-Administrationen absorbieren lassen, in Fraktions- und Staatskanzlei-Stäben, Ministerien, Partei- und Abgeordnetenbüros; sie selbst scheinen irgendwie übriggeblieben zu sein oder wechselten gerade rechtzeitig noch einmal die Seite.

Dagegen hat die zweite Generation, die noch kleine SPD-Abgeordnetengruppe der Unter-30-jährigen, mit den Enkeln lebenspraktisch wenig zu schaffen. Vielleicht gehen manche individuell den gleichen Weg: von der Uni direkt ins Parlament, aber konkurriert haben sie mit dem closed-shop-System der 68er selbst nie.

Stellen nun die beiden Nach-68-Generationen in der SPD auch politisch etwas Zusammenhängendes dar? Verbindet die einen wie die anderen – und diese mit jenen – mehr als ihr minderes Alter, U 40? „Zeigt her, was Ihr habt!“ forderte der frühere Zeit-Feuilletonchef Ulrich Greiner vor einigen Jahren von der für schlapp gehaltenen 20- bis 30-jährigen Lesergeneration; sie sollten Aufsätze einreichen – und wurden leider den Erwartungen voll gerecht, Jammer! – Mit der Forderung mindestens nach einem eigenen geschlossenen Programm mußten die sozialdemokratischen youngsters also rechnen, wann immer sie öffentlich die Tatsache ihrer Existenz zu erkennen geben würden.

Generation Berlin

Mit großen Worten, Posen, Theorien und Illusionen hat doch auch unsere universelle Vorbildgeneration von ′68 ihre politischen Ansprüche legitimiert. Wer das Modell einer moralisch besseren Welt, frei von Ausbeutung und Unterdrückung, Not und Krieg, in der Tasche trägt, der soll wohl das Recht haben, sich durchsetzen zu wollen. Was also legitimiert die heute Jüngeren? Vielleicht ein Gegenentwurf? Interessant! Doch sind nicht längst alle denkbaren politischen Positionen, vom Neoliberalismus über den Pragmatismus und den sozialdemokratischen Traditionalismus bis hin zum Postmodernismus und antirassistischen Feminismus, von unseren einst marxistisch geschulten graumelierten Vorfahren besetzt? Sie lächeln. Eben.

Es nützt nichts, gemeinsamer Bezugspunkt der beiden Nach-′68-Generationen ist, was denn sonst, ′68. Das mögen sie nicht mehr hören, schon gar nicht als Kritik. Aber ′68 ist längst historisch geworden, die großen Erfolge der Bewegung sind unumkehrbar: Befreiung von muffigen sozialen Milieus, von allzu engen Familienbanden, von sexuellen Beschränkungen, von den fraglosen Autoritäten in Kirche, Schule und Hochschule, vom Patriarchat (ein bißchen), vom obrigkeitlichen Staat. Dieser Freiheitskampf braucht nicht mehr heroisch geführt zu werden, taugt mithin kaum noch zur Legitimation des politischen Monopolanspruchs unserer Juso-Veteranen, die heute SPD-Honoratioren sind.

Andererseits hat der Individualisierungsschub seit dieser Aufbruchzeit Nebenfolgen verursacht, zieht Spätschäden nach sich, die mit den Patenten von ′68 nicht zu reparieren sein werden. Wir beklagen eine Zunahme kleiner Fluchten aus der Gesellschaft (in Drogen, Sekten oder Aussteigergruppen), fürchten uns vor zunehmender Gewaltbereitschaft, Verrohung und Verwahrlosung in manchen perspektivarmen Ghettos, bemerken einen allgemeinen Schwund des Unrechtsbewußtseins bei jeder Art von Vorteilsnahme und rücksichtslosem Ellenbogengebrauch. Wir sehen, der radikalliberale Einsatz für noch mehr individuelle „Selbstverwirklichung“ führt keineswegs zu noch mehr Freiheit für alle. Nicht übergroßer Anpassungsdruck ist heute das Problem. Was unsere Gesellschaft kaputtmacht, ist weit eher das Unvermögen, sich überhaupt noch auf einige gemeinsame Maßstäbe zu verständigen.

In solcher Kritik an den Folgen, aber auch an Stil und Methode, Ideologie und Überhebung der Vorgänger können Gemeinsamkeiten der nachfolgenden sozialdemokratischen Generationen gefunden werden. Unsere gemeinsame Generationenerfahrung besteht in der selbsterlebten politischen Praxis der hermetischen Generation vor uns. Das bringt Leute zusammen. Vielleicht reicht es nicht für eine politische Identität. Vielleicht steht uns das prägende Generationenerlebnis noch bevor. Für die im Westen Jungen hat ja 89/90, der Mauerfall, die Vereinigung, wenig neue Identität gestiftet – ganz anders als im Osten – , doch nun kommt etwas Unerhörtes auf alle zu, etwas Neues beginnt: die deutsche Republik von Berlin aus. Vielleicht werden wir, neu in der neuen Regierungsfraktion, Teil der „Generation Berlin“ sein, die ein Theoretiker der Berliner Republik, Heinz Bude, erwartet.

Doch welche politische Erneuerung könnte von einer neuen Generation am neuen Ort ausgehen?

Verantwortungsethik statt Partizipationspathos

Jüngere Sozialdemokraten haben heute ein unkomplizierteres Staatsverständnis. Die Bundesrepublik tritt uns nicht als postfaschistischer Obrigkeitsstaat entgegen, wir müssen uns und andere nicht vom Untertanen zum Bürger umerziehen. Die Verfassungsstrukturen der liberal-repräsentativen Demokratie sind nicht zu „entlarven“, sondern zu nutzen. Politik als Protest, weil der Verschwörung der Herrschenden anders vielleicht nicht beizukommen wäre, mag ihre Zeit gehabt haben (oder auch nicht), die jetzige Zeit ist gut für eigene Tätigkeit in den Strukturen.

Wir leiden auch nicht unter einem schreienden Demokratiedefizit. Mehrere Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich in Parteien, Kommunalparlamenten, Betriebs- und Personalräten, Gewerkschaften und Berufsvereinigungen, akademischen Selbstverwaltungsgremien und solchen der Kammern und der Sozialversicherung, Schüler- und Elternvertretungen, in Beiräten für Senioren, Ausländer, Frauen, Jugendliche und Behinderte. Nehmen wir deutsche Parlamentarier in Ländern, Bund und Europa, Regierende, hauptamtliche Bürgermeister und Stadträte zusammen, kommen wir auf über 5.000 Berufspolitiker.

Unser Hauptproblem ist heute längst nicht mehr der Mangel an Partizipationsmöglichkeiten und tatsächlicher Beteiligung, sondern der Mangel an Transparenz und zurechenbarer Verantwortung.

Wir haben die Bundesrepublik Deutschland bereits als selbstverständlich erlebt, unser Mißtrauen hält sich in Grenzen. Sozialdemokratische Landesinnenminister, die nichts für freiheitsgefährdender halten als den Staat, den sie selbst vertreten, erscheinen reichlich kurios.

Family values

Familie ist, wo Kinder sind. Diese positive Programmformulierung der modernen SPD klingt richtig. Wenn das sozialdemokratisch korrekte Negativbild dazu allerdings die „Mama-Papa-Kind-Trauschein“ Familie sein sollte, wie führende Familienpolitikerinnen nahelegen, dann wäre zu streiten. Aus der Beobachtung, daß viele Ehen geschieden werden, daß immer mehr Mütter (und manche Väter) ihre Kinder allein erziehen, daß Großeltern, Stiefmütter, Stiefväter, Partner und Lebensabschnittsgefährten den Kindern ein Elternteil ersetzen, darf nicht geschlossen werden, daß das etwa gut so sei. Die Bindekraft der Ehe, des verbindlichen Versprechens der lebenslangen Sorge füreinander, scheint nach Jahrzehnten des ungebrochenen Individualisierungstrends schwach geworden zu sein. Wahrhaft progressive Menschen mögen Ehe- und Familienpflichten für spießig, altertümlich und uncool halten – kleinen Kindern aber tun Trennungen selten wirklich gut. Deshalb muß der Sozialstaat gerade in den Fällen helfen, unterstützen und fördern, wo zum ganzen Familienglück etwas fehlt. Weil die soziale Realität – leider – so ist.

Aber normativ, als regulative Idee halten wir fest am unspektakulärsten Menschenverband, den es gibt: an der sich selbst helfenden, staatlich verbundenen Kernfamilie – Mama, Papa, Kind, Trauschein. Sie soll nur die Steuern zahlen, die ihrer steuerlichen Leistungsfähigkeit entsprechen; beide Eltern sollen, wie sie es untereinander vereinbaren, ganz oder in Teilzeit Erziehungsurlaub nehmen können; öffentliche Kinderbetreuungsangebote und verläßliche Halbtagsschulzeiten (wenigstens) sollen Familie, Beruf und gesellschaftliches Engagement vereinbar machen. Das wird teuer genug, aber wir sollten es uns leisten wollen.

Schutz der sozialen Umwelt

Modernisierung, Deregulierung und Flexibilisierung sind für manche, die früher anderen Ideologien folgten, zu einem neuen geistigen Orientierungssystem geworden, das gegenwärtig wohl vor allem deshalb als fortschrittlich, schick und neu-links gilt, weil es alt-ausgewiesene Linke sind, die es heute dazu erklären. Fortschrittlich fanden schon Karl Marx und Friedrich Engels das unbarmherzige Zerreißen der Bande zwischen Mensch und Mensch, wie sie es in der Mitte ihres Jahrhunderts der Bourgeoisie zuschrieben: „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allem anderen aus.“ Was immer das dringende Deregulierungsgeschwätz sonst sein mag, links, liberal – originell ist es nicht mehr, seit vor 151 Jahren das Manifest der Kommunistischen Partei erschien. Und besonders sozialdemokratisch ist es nach der Abkehr vom wissenschaftlichen Sozialismus eigentlich auch nicht.

Sozialdemokraten sollten Menschen mit ihren Erfahrungen, ihren gegenwärtigen Bedürfnissen und ihren künftigen Chancen ins Zentrum der Politik stellen – nicht Pseudo-Gesetzmäßigkeiten der ökonomischen Entwicklung nach der jeweils neuesten Mode. Die Menschen machen ihre Geschichte vielleicht nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst.

Deshalb darf unser Leitbild des 21. Jahrhunderts nicht der vollflexible Mensch sein: mobil und international einsetzbar, ohne familiäre Verpflichtungen und soziale Verantwortlichkeiten, belastbar, nur am Geldverdienen interessiert, heimatlos. Wenn die Anforderungen der Ökonomie nicht mehr mit den Normalbiographien der Erwerbstätigen vereinbar sind, dann liegt der Fehler wohl nicht beim einzelnen, sondern im System. Diese Art Systemkritik – am Primat der Ökonomie – haben wir noch, haben wir wieder vor uns.