Eindrücke aus politischen Gesprächen an der Kieler Universität im Wintersemester 1997/98

Beitrag von Hans-Peter Bartels in der Kieler SPD-Zeitung „Wahlzeit für Kiel“ im August 1998

Ist Ihnen kalt? – Nein, uns ist nicht kalt, und vielen Dank für den Kaffee. Das Büro des Direktors der Universitätsbibliothek verströmt den etwas morbide gewordenen Charme der sechziger Jahre, ein bißchen braune Holztäfelung, riesige Glasflächen, metallene Fensterrahmen – ideale Temperaturleiter, durch die in richtigen Wintern der Frost ins Zimmer kriecht. Diese sommerliche Architektur galt in bildungsbegeisterteren Zeiten gewiß einmal als fortschrittlich. Nach vielen Wintersemestern repräsentiert sie jetzt nur noch eine alte, kalte Moderne. Sie müßte erneuert, ersetzt werden. Aber das Geld. Seit 1980 wird an einer neuen Zentralbibliothek geplant. Der 67er Bau ist mit zwei Millionen Bänden längst völlig vollgestellt, läuft über in Ausweichmagazine, kann kaum Platz für zeitgemäße Technik – Internet! – freiräumen. Noch immer hat der erste Spatenstich für den Neubau nicht stattgefunden, aktueller Einweihungstermin: Weihnachten 2000. Der Direktor scherzt nicht, er hofft, das neue Haus noch vor seiner Pensionierung beziehen zu können.

Von 1981 bis 1988 habe ich an dieser Universität studiert, promoviert, mich in ihren Gremien und im AStA engagiert, danach im Nebenamt noch einige Lehraufträge angenommen. Als frisch aufgestellter Bundestagskandidat besuche ich nun über mehrere Wochen im Wintersemester 1997/98 die alte Anstalt, spreche mit Professoren und Studenten, gehe zu Veranstaltungen. Gemeinsam mit dem Abgeordneten aus dem Nachbarwahlkreis Plön/Neumünster, Dr. Michael Bürsch, nehme ich die Streik- und Protestaktionen der Studierenden zum Anlaß für eine persönliche Bestandsaufnahme der deutschen Hochschulmisere am Beispiel Kiel. Es ist auch eine sentimentale Reise in die Vergangenheit – zweier unterschiedlicher Generationen: Bürsch hat sein Kieler Jura-Studium im Jahr nach meiner Geburt aufgenommen, 1962.

Wir sitzen im Audimax-Hörsaal H in der Volkswirtschaftsvorlesung von Professor Horst Siebert, einem der Großgutachter aus dem Rat der Wirtschafts-„Weisen“. Sein Auftritt ist elegant, mit Anzug und Fliege, mit englischen Zitaten und Overhead-Projektor. Seine Hauptmedien scheinen dagegen rührend antiquiert zu sein: Sprache und Tafelbild. Er malt Kurven an die Wand, schreibt Formeln dazu, wischt weg, erklärt ein Modell aus einem anderen Modell. Von A nach B geht es mit weißer, von A-Strich nach B-Strich mit gelber Kreide. Die Studenten, fast nur männliche, schreiben eifrig mit. Gegenüber der Sozialverträglichkeit seiner ökonomischen Theorien mögen sozialdemokratische Zweifel angebracht sein, aber Sieberts klassische Lehrmethode ist beeindruckend. Kein Weg führt für den, der wirklich Wissen erwerben will, an der Anstrengung des Begriffs vorbei. Anstrengung ist kein Spaß, deshalb macht der Professor zwischendurch ein paar Witze, man lacht. Und man spürt, daß die Studenten sich selbst und ihren Lehrstoff ernst nehmen.

In der Mittagspause besuche ich die studentische Vollversammlung. Die Studenten beraten, ob sie sich dem Streik der Gießener Kommilitonen anschließen wollen und was eigentlich „Streik“ für Studenten bedeutet. Mehr als 2000 drängen sich im großen Hörsaal, auf den Treppen und im Foyer des Audimax. Allerdings sind an der Uni Kiel weit über 20.000 Studierende eingeschrieben. Was tun die anderen 90 Prozent?

Der AStA-Vorsitzende hält eine kluge Rede und bekommt viel Beifall. Politisch richtet sich der lautwerdende Protest der Versammlung ziemlich pauschal gegen „die Politik“, gegen „alle Parteien“. Den Sozialdemokraten im Publikum muß das schmerzen, aber es ist ja richtig: Auch SPD-Regierungen machen Fehler. Und daß die Uni Kiel 1998 nicht nur keinen Inflationsausgleich mehr bekommt, sondern sogar einige Millionen Mark weniger zur Verfügung hat als im Jahr zuvor, ist nun einmal dem Ratschluß einer rot-grünen Parlamentsmehrheit zu danken. Von der Bonner Koalition werden gleichzeitig die Hochschulbau- und Forschungsmittel gekürzt, das Bafög bleibt völlig unbefriedigend. Die parteiübergreifende Parole, Bildung sei „unser wichtigster Rohstoff“, klingt da ein wenig hohl.

Der Hochschuletat Schleswig-Holsteins ist seit 1988 tatsächlich stärker gestiegen als die Studentenzahlen, aber die „Überlast“ in den schon 1988 stark nachgefragten Fächern ist ebenfalls größer geworden, ohne Entlastung: Da gibt es immer noch Wartelisten für Seminare und Prüfungen, keine Beratung und Betreuung der Studenten, zu wenig Bücher, unnötig lange Studienzeiten – weil einfach zu wenig Lehrende zu vielen Lernenden gegenüberstehen. In diesen ohnehin meist preisgünstigen großen Fächern – Anglistik, Politologie, Pädagogik u.a. – wäre mit minimalem Mitteleinsatz schnell Besserung zu erzielen. Aber sie gelten universitätsintern und wohl auch in der Politik überwiegend als brotlose Künste. Sollen deren Studenten doch lieber etwas Ordentliches lernen – als wenn es nicht längst auch Ärztinnen und Ingenieure gäbe, die Taxi fahren oder zum Versicherungsagenten umgeschult werden.

Eingeschriebene Studenten zu zählen, scheint relativ einfach zu sein. Aber wieviele Menschen die Uni für Geld beschäftigt, wieviele Köpfe also die komplexe Dienstleistung „Universität“ gemeinsam erbringen, ist nirgendwo exakt zu erfahren. – Es gibt Haushalts- und Stellenpläne, sagt der Uni-Kanzler. – Gewiß, aber nicht alle Stellen sind besetzt; und Stellen, die nicht aus Landesmitteln finanziert werden, stehen nicht im Haushalt; es gibt Teilzeit, Mutterschutz und Erziehungsurlaub, Wiederbesetzungssperre und kw-Vermerke. Die Zahlenangaben schwanken zwischen Verwaltung, Personalrat und Rektorat um 500, das sind 15 Prozent „Unschärfe“.

„Die“ Universität ist modern und altertümlich, spannend und langweilig, Schlußlicht und Spitze, familiär und anonym, baufällig und luxuriös, patriarchal und frauenbewegt, rechts und links. Es sind viele ganz und gar unterschiedliche egoistische Institute und Lehrstühle, die um Ansehen, Autonomie und Stellenvermehrung kämpfen – nicht für die Universität, nicht immer für die Studierenden, aber fast immer für ein bißchen mehr Licht der Erkenntnis in der Finsternis des irdischen Jammertals. Und dafür, daß etwas von dem hellen Schein auch auf den Beleuchter fallen möge.

Bei knapper werdenden Mitteln führt dieser Kampf aller gegen alle fast zwangsläufig zu Kannibalismus. Wessen Zeitverträge laufen früher aus, wer wird später emeritiert, zwischen welchen Stellenbesetzungen bestehen logische Verknüpfungen – nichts anbrennen lassen, Fakten schaffen, sich behaupten in der Konkurrenz um das schrumpfende Budget! Insofern hält sich die Begeisterung der Betroffenen in Grenzen, wenn unter der fortschrittlichen Losung „mehr Autonomie“ die Universität künftig intern auskämpfen soll, wo nur noch sparsam gekleckert und wo fröhlich geklotzt werden kann. Die Politik darf sich nicht, Konflikten ausweichend, zurückziehen.

Mit mehreren offiziellen Terminen klingt das aktionsreiche Wintersemester aus. Neujahrsempfang der Universität: Für die Landesregierung nehmen zwei Staatssekretäre teil; der Oberbürgermeister ist mit allen Stadträten gekommen. Winterfeier der Technischen Fakultät: Der Oberbürgermeister hält die Festrede. Neu im Programm: ein eigener Empfang der Stadt für die Vertreter der Kieler Hochschulen im Rathaus. In der selben Woche: Die Landesregierung zu Gast bei ihrer Landesuniversität, das Kabinett läßt sich unterrichten und tagt „vor Ort“. Es mangelt nicht an neuer Zuwendung, Hochschulpolitik ist wieder ein Thema.