Gastbeitrag von Hans-Peter Bartels zur geplanten Bundeswehrreform für die Zeitschrift "Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte", September 2010

Mehr als 1,5 Millionen aktive Soldaten standen 1989 auf deutschem Boden, in den Ausgangsstellungen des Dritten Weltkrieges, konkret: 500.000 Angehörige der westdeutschen Bundeswehr; 500.000 Briten, Franzosen, Amerikaner, Kanadier, Belgier und Holländer; 170.000 Mann von der ostdeutschen Nationalen Volksarmee und 400.000 sowjetische Soldaten der Westgruppe der Roten Armee in der DDR. Das war hierzulande sozusagen das Bodenpersonal des 40-jährigen Kalten Krieges, der sich in den Jahren danach in Wohlgefallen auflöste: friedliche Revolution, Mauerfall, freie Wahlen, Wiedervereinigung, Auflösung des Warschauer Pakts – ein Epochenwechsel.

Heute tun im geeinten Deutschland gut 300.000 Soldaten Dienst: 250.000 in der Bundeswehr und etwa 50.000 Alliierte. Von der »Friedensdividende«, die in den Zeiten der alten Entspannungs- und Rüstungskontrollpolitik so viel beschworen wurde, redet heute niemand, aber es gibt sie. In den 80er Jahren lag der Anteil der Verteidigungsausgaben am Gesamthaushalt des Bundes bei 20 %, heute sind es weniger als zehn.

Entgegen ersten Erwartungen gibt es auch nach dem Ende der bipolaren Welt ernsthafte Sicherheitsgefahren. Unter dem Spannungspanzer der alten Ost-West-Konfrontation brachen neue Konflikte auf: im europäischen Vielvölkerstaat Jugoslawien, im Verhältnis der islamischen Welt zum Westen, in Form von Terrorismus,failed states und Piraterie.

Das sind andere Risiken, weniger existenzielle als zu Zeiten des großen Systemkonflikts. Aber eben weil nicht mehr der Dritte Weltkrieg droht, kann die Welt heute auch nicht mehr wegschauen, wo Hilfe nötig wäre. Sie kann helfen. Die UNO ist viel handlungsfähiger als in den gefährlichen Njet- und Veto-Jahrzehnten. Von Anbeginn unserer neuen verfassungsmäßigen Ordnung nach Krieg und Nazi-Barbarei heißt es in Artikel 24 unseres Grundgesetzes: »Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.«

Deshalb konnten uns Krieg und Bürgerkrieg auf dem westlichen Balkan nicht ruhen lassen. Nur Hunderttausende von Flüchtlingen aufzunehmen (was geschehen ist), war nicht genug. Deutschland hat mit Friedenstruppen unter UNO-Mandat und in einem NATO-Kampfeinsatz gegen Milosevics Rest-Jugoslawien interveniert, hin- und hergerissen, mühevoll, langwierig, aber im Ganzen gesehen: erfolgreich. Heute heißt für alle Nachfolgestaaten dort die Perspektive: Mitgliedschaft in der Europäischen Union, auch für Serbien und das Kosovo. Die Präsenz EU-geführter und NATO-geführter internationaler Truppen geht jetzt zu Ende, in Mazedonien ist die Intervention längst Geschichte; in Bosnien-Herzegowina läuft sie gerade aus; im Kosovo ist heute nur noch ein Zehntel des Militärs stationiert als zu Beginn des Engagements (damals 68.000 Soldaten); in zwei, drei Jahren dürfte auch hier die Mission erfüllt sein.

Vereinte Nationen stärken

Der deutsch-amerikanische Philosoph Hans Jonas hat in seiner Verantwortungsethik einen Imperativ formuliert, der für uns handlungsleitend in dieser Zeit gewesen ist: »Du musst, weil Du kannst!« Den Völkermord Pol Pots am eigenen Volk in Kambodscha (1975-1979) zu beenden, war keine UNO und kein Militärbündnis imstande, es wäre ein Weltbrand geworden; interveniert hat – so ungünstig aus vielerlei Gründen das auch war – der einzige, der es konnte, der Nachbar Vietnam. Idi Amins Wahnsinn in Uganda (1971-1979) stoppte der durch nichts legitimierte Nachbar Tansania. 1994 in Ruanda griff niemand ein. In diesem Bürgerkrieg starben 800.000 Tutsi und Hutu, während die Welt wegschaute.

Deshalb ist es gut, dass heute der UNO-Sicherheitsrat Beschlüsse fassen kann, die nicht blockiert, sondern wirksam werden. In seinem Abschiedsbrief an die Konferenz der Sozialistischen Internationale 1992 in Berlin schrieb Willy Brandt: »Wo immer schweres Leid über die Menschen gebracht wird, geht es uns alle an. Vergesst nicht: Wer Unrecht lange geschehen lässt, bahnt dem nächsten den Weg. Die Vereinten Nationen zu stärken, ist uns ein altes und vertrautes Bestreben. Jetzt, da sich Fortschritt abzeichnet und den UN wenn nicht Macht, so doch Einfluss zuwächst, lohnt es, eine große Anstrengung zu machen. Helfen wir, den Vereinten Nationen die Mittel zu geben, derer sie bedürfen, um Einfluss auch ausüben zu können.«

Für die Regierung Schröder/Fischer war Artikel 24 in Verbindung mit Willy Brandts Vermächtnis die verfassungsrechtliche und politische Legitimation, um die Rolle des vereinigten Deutschlands in der neuen multipolaren Welt neu zu justieren: Es sollte keine deutschen Sonderwege mehr geben, sondern einen sicherheitspolitischen Multilateralismus, in den selbstbewusst deutsche Interessen und deutsches Verantwortungsbewusstsein eingebracht werden. Dazu passte das Ja zur Beteiligung an der US-geführten internationalen Intervention in Afghanistan nach den Al-Quaida-Anschlägen vom 11. September 2001 wie auch 2002 das rot-grüne Nein zum Irak-Krieg.

Radikaloperation und Strategie-Verweigerung

Verstörend wirken vor dem Hintergrund dieser deutschen post cold war-Geschichte die überraschend rabiaten Reformankündigungen, mit denen der junge Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg in diesem Sommer Schlagzeilen macht. In einer tatsächlich durchgeplanten Extremvariante würden die Streitkräfte auf 150.000 Männer und Frauen geschrumpft, ausschließlich Zeit- und Berufssoldaten, in einer anderen auf 170.000.

Niemand, auch der Minister nicht, behauptet, die sicherheitspolitische Lage habe sich in den letzten paar Monaten grundlegend verändert, wie 1990 und noch einmal vielleicht 2001. So ein Wandel kann rapide kommen, kann unvorhergesehen sein, aber 2010 hat nichts dergleichen stattgefunden. 2010 ist vielmehr das Zieljahr für die vom sozialdemokratischen Verteidigungsminister Peter Struck 2003 in Auftrag gegebene »Transformation«, für den Umbau der Bundeswehr auf jetzt genau 252.000 militärische (und 75.000 zivile) Dienstposten. Die Halbierung ist abgeschlossen. Und plötzlich droht nun eine erneute Radikaloperation.

Statt sicherheitspolitische Argumente sprechen zu lassen, klagt Guttenberg theatralisch über das »Spardiktat« des Bundeskabinetts – und macht sich dann dessen fiskalische Sichtweise so zu eigen, als sei es immer schon seine eigene gewesen: »Der mittelfristig höchste strategische Parameter, quasi als conditio sine qua non, unter dem die Zukunft der Bundeswehr gestaltet werden muss, ist das globalökonomisch gebotene und im Verfassungsrang verankerte Staatsziel der Haushaltskonsolidierung, also die ›Schuldenbremse‹«. So der Minister bei einer Kommandeurstagung der Streitkräftebasis in der Führungsakademie in Hamburg. Das ist keine neue Strategie, sondern Strategie-Verweigerung!

Nun verfolgt Guttenberg, der nach Umfragen beliebteste Politiker Deutschlands, zweifellos noch höhere Ziele als die Reform der Bundeswehr. Seit Monaten wird der adlige Polit-»Außenseiter« als Ersatzkanzler des bürgerlichen Lagers gehandelt. Nichts geht dem 39-jährigen Shootingstar, der erst 2008 CSU-Generalsekretär wurde, 100 Tage später Bundeswirtschaftsminister, weitere sieben Monate danach Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt, über seine Popularität. Eine eigens neu eingerichtete Organisationseinheit für »strategische Kommunikation« wacht im Ministerium über den richtigen spin in allen Geschichten, die über diesen Hoffnungsträger erzählt werden können.

Spin-mäßig ist Sparen beim Militär ein gutes Thema. Die Reduzierungswellen der Vergangenheit sind in der Öffentlichkeit längst vergessen. Kommunikativ lässt es sich leicht so einrichten, als finge das Sparen bei der Bundeswehr jetzt erst – endlich! – richtig an. Und auch die unpopuläre Rüstungsindustrie als Buhmann aufzubauen, ist zwar für einen CSU-Minister aus Bayern durchaus ungewöhnlich, aber wahlstrategisch gesehen kein Problem: Wie viele Divisionen hat EADS?

Dabei wäre es leicht, parteiübergreifend Konsens darüber herzustellen, dass die Bundeswehr auch nach abgeschlossener »Transformation« noch Reformbedarf hat. Erfahrungen mit den neuen Binnenstrukturen und aus den Auslandeinsätzen legen ein intelligentes Nachsteuern nahe. Das beträfe die Beseitigung der Stabslastigkeit über die ganze Struktur der Streitkräfte hinweg, den Übergang zu einem freiwilligen Wehrdienst, den Abschied von der teuren nuklearen Teilhabe, weniger Fernmeldebataillone, aber mehr Infanterieverbände und anderes mehr. Am Ende könnte eine etwas verkleinerte Bundeswehr stehen, in ihrem Umfang abgestimmt auf die Größe der vergleichbaren Verbündeten in Europa: Frankreich, Großbritannien, Italien.

Mitte Europas ist kein Vakuum

Deutschland ist mit Abstand die größte Volkswirtschaft des Kontinents, die zweitgrößte in der NATO, die drittgrößte weltweit. Dieses Land mit 80 Millionen Einwohnern in der Mitte Europas, umgeben ausschließlich von befreundeten und verbündeten Nationen, ist in der glücklichen Lage, heute über Landesverteidigung kaum noch nachdenken zu müssen. Aber wenn Solidarität keine Einbahnstraße gewesen sein soll, dann geht heute die Sicherheit unserer Bündnispartner uns an, so wie andere Alliierte vier Jahrzehnte lang unsere Verteidigungslasten mit uns geteilt haben. Nicht alle Partner in der EU und in der NATO grenzen an so ausgesprochen nette Nachbarn wie wir. Das Sicherheitsbedürfnis im östlichen Teil Europas, ja selbst in Norwegen ist durch Lage und Geschichte ein bisschen anders als gegenwärtig das deutsche. Die Mitte Europas ist kein Vakuum und darf kein Vakuum werden. Weil sie keins war, existiert die Stabilität, die wir im Augenblick für selbstverständlich halten. Die einseitige signifikante Reduzierung des deutschen Anteils am längst kleiner gewordenen europäischen Streitkräftedispositiv in NATO und EU hieße am Ende, dass es für alle harten Fragen der Sicherheit nur eine Adresse gibt: die USA. Das könnte im Interesse Amerikas, ganz gewiss aber nicht im Interesse Europas und Deutschlands liegen.

Unser Engagement in Afghanistan war, anders als das auf dem Balkan, in erster Linie der Solidarität mit den 2001 angegriffenen USA geschuldet. Die führende Rolle Amerikas und des amerikanischen Militärs (100.000 US-Soldaten zu 5.000 deutschen) steht völlig außer Zweifel, auch wenn manche Diskussionen hierzulande manchmal so klingen, als würde die Zukunft des Mittleren Ostens exklusiv im Deutschen Bundestag entschieden. Deshalb wäre es nicht richtig, die künftige Gestalt der Bundeswehr vor allem am belastenden, lang andauernden (aber irgendwann zu Ende gehenden) US-NATO-Einsatz in Afghanistan auszurichten. Die Sicherheit des Bündnisses in Europa muss Kern der Legitimation deutscher Streitkräfte überhaupt sein. Die neuen out-of-area– Einsätze kommen hinzu, aber sie ersetzen nicht den alten Daseinszweck der Bundeswehr.

Dabei ist die Umfangsfrage – nach 500.000 und 250.000 nun bald gerade noch 150.000 oder 170.000 Bundeswehrsoldaten? – nicht banal. Wo boots on the ground fehlen, bleiben nur die Auswege in technische Systeme (z.B. Kampfdrohnen) mit all ihren Sachzwängen, in den Wunderglauben an geheime Spezialoperationen und in Aufträge für private Sicherheitsfirmen, wie von den USA recht exzessiv praktiziert. Wollen wir das?

 

Als PDF öffnen