Ãœberlegungen zur Lage nach den Landtagswahlen und vor der Bundestagswahl 2009

I.

Regieren wird schwieriger in Deutschland. Entgegen landläufiger Meinung sind Existenz, Westausdehnung und Wählerzuspruch der Linkspartei kein exklusives Problem der SPD. In Hessen und Hamburg waren es nicht SPD-, sondern CDU-Alleinregierungen, die zusammenbrachen; auch CDU plus FDP bringen hier keine parlamentarische Mehrheit mehr zustande; die SPD legte – aus historischen Tiefen wieder aufsteigend – jeweils ganz tüchtig zu. Da die Wahlbeteiligung rückläufig ist, kann für den Erfolg der fünften Partei auch nicht das bisher unausgeschöpfte sogenannte Nichtwählerlager herangezogen werden; die Linke in ihrer multiplen Eigenschaft als Ost-, Links-, Anti-Fremdarbeiter- und Wir-hier-unten-Denkzettel-Partei schöpft aus allen Quellen. Das macht die klassische Wahlalternative des Vier-Parteien-Systems, Schwarz-Gelb versus Rot-Grün, kaputt. Alleinregierungen (wie die der CDU in Thüringen und im Saarland, der SPD in Rheinland-Pfalz oder der CSU in Bayern) und kleinere Zweier-Bündnisse (wie Rot-Grün in Bremen oder CDU/FDP in Niedersachsen, NRW, BaWü) werden seltener.

Das in den ostdeutschen Ländern und im Bundestag schon seit 1990 präsente Fünf-Parteien-System verändert die Möglichkeiten und Zwänge der politischen Kombinatorik, nun auch im Westen. Gegenwärtig sind sechs Große Koalitionen (Bund, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg), einmal SPD/Linke (Berlin) und demnächst vielleicht Schwarz/Grün (Hamburg) und Ampel (Hessen) Ausdruck dieser Veränderung, die alle betrifft. Das Unnormale wird normal, die bisherige Ausnahme beinah zur Regel.

Entscheidend für die Durchsetzungsfähigkeit politischer Programmatik werden künftig nicht nur die Stimmenanteile der einzelnen Parteien sein, sondern darüber hinaus ihre Optionen, mit anderen parlamentarische Mehrheiten zu bilden. Das betrifft nicht nur die beiden großen, sondern auch die drei kleineren Parteien FDP, Grüne und Linke. So wenig liberale (3x) und grüne Mitregierung (1x) wie heute war noch nie in Bund und Ländern.

In vorwegeilender Vereinfachung hat die deutsche Öffentlichkeit, vertreten durch fast alle ihre Medien, sowohl die rote wie auch die schwarze Ampel (bisher noch nirgends erfolgreich erprobt) für unproblematisch erklärt – und ebenso Schwarz-Grün. Die Zahl der grünen Optionen steigt also durch das flächendeckende Hinzutreten der Linkspartei sprunghaft; und, jede Wette, die Grünen werden mit den üblichen Schmerzen am Ende zu allem bereit sein. Die FDP schreckt noch vor der SPD/FDP/Grün-Variante zurück, betreibt derzeit keine sozialliberale Koalition und muss aufpassen, nicht als bloßer Ausfallbürge für notleidende CDU- oder CDU/Grüne-Regierungen wahrgenommen zu werden. Sie hat wie immer die Wahl: Beweglichkeit oder Tod.

Zum Hauptgegenstand der Deutungskämpfe darüber, welche der neuen, transklassischen Koalitionsoptionen in Zukunft gehen dürfen und welche nicht, ist das Verhältnis der SPD zur Linkspartei in Westdeutschland geworden. Im Osten gab es (Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern) und gibt es (Berlin) rot-rote Tolerierungen und Koalitionen. Und dass dies im Westen, wenn die Linke nicht freundlicherweise einfach wieder verschwindet, eines Tages auch so sein könnte oder müsste, das vorauszusehen, erfordert wenig politische Phantasie.

Die selbstbewusste und realistische Antwort der SPD auf die Frage nach der Koalitionsfähigkeit der West-Linken müsste also heißen: theoretisch ja, praktisch und heute – nein! Wer allerdings sagt: theoretisch niemals, und praktisch schaun mer mal, der bekommt sofort ein kleines Kommunikationsproblem.

Selbst wenn die Grünen, ihre Optionen weiter mehrend, etwa in Hessen für eine SPD-Grüne-Links-Konstellation zur Verfügung stünden, wäre es für die SPD nicht ratsam, es hier auf den Versuch ankommen zu lassen. Die West-Linke ist – wie 1980 die Grünen, allerdings weniger sympathisch – von Sektierern, Parteiwechslern undWer-hat-uns-verraten-Kollegen geprägt. Das kann sich ändern. Parlamentarismus ist erziehlich. Nicht Kader, sondern Menschen machen Politik. Aber noch spricht praktisch alles gegen Bündnisse mit den Linkspopulisten.

Damit sitzt die SPD zwar nicht in der Falle, aber gegenwärtig am kürzeren Hebel, was Mehrheitsbündnisse angeht: Neben Rot-Grün (und Rot-Rot im Osten) gibt es, solange die FDP sich sperrt und die Linke im Westen nicht in Frage kommt, wenig Perspektiven für eine sozialdemokratisch geführte Regierung jenseits der Großen Koalition. Deshalb wäre Rot-Gelb-Grün in Hessen so charmant – wenn doch nur die FDP die Signale verstehen wollte! Aber mit dem vielsagenden Wir können auch anders ist heutzutage schlecht drohen. Anders hieße hier eben doch wieder nur: Große Koalition. Punkt.

Die Etablierung der SED-Nachfolgepartei in den ostdeutschen Länderparlamenten war ein Ergebnis der neuen Wahlfreiheit nach dem Ende der alten DDR. Dass sich die PDS im gesamtdeutschen Bundestag etablieren konnte, ist ihrer regionalpolitischen Bedeutung im Osten und dem spezifischen Einigungswahlrecht des Jahres 1990 (zwei Wahlgebiete mit separater Fünf-Prozent-Hürde) zu danken. Dass schließlich die Westausdehnung als fünfte Partei gelang, lässt sich zum größten Teil auf die bundespolitische Dauer-(Oppositions-)Präsenz auf den Bühnen Bundestag und Regierungsbildung Ost zurückführen, zum kleineren Teil auf die spezifischen Vorteile, die die Große Koalition populistischen Protestparteien bietet. Und gewiss ist die Motivation mancher Parteigründer (WASG, Lafontaine) auch der sozialdemokratischen Agenda-Politik Schröders geschuldet. Wer allerdings die Linkspartei-Erfolge im Westen 2008 nur aus Beschlüssen der rot-grünen Bundestagmehrheit 2003 erklärt, der hüpft zu kurz.

Über den Umgang mit der Linkspartei sollte die SPD sich nicht zerstreiten. Das Thema taugt auch nicht zur Instrumentalisierung für eine mögliche Kanzlerkandidatenkonkurrenz. Alle Flügel haben das gleiche Problem, und es gibt kein Patentrezept, wie man unter der Bedingung der Großen Koalition im Bund die Linkspartei klein hält und gleichzeitig der CDU Landesregierungen abnimmt.

Von der langweiligen bayerischen Landtagswahl im Herbst einmal abgesehen steht als Markt der Möglichkeiten für die neue politische Kombinatorik vor der Bundestagswahl 2009 vor allem ein Ereignis im Zentrum, das ist die Wahl des Bundespräsidenten am 23. Mai 2009. Schwarz-Gelb wird dort keine eigene Mehrheit mehr haben, der Amtsinhaber dürfte deshalb auf eine Wiederkandidatur verzichten (warum sollte die SPD ihn mitwählen?). Im Werben um spätere potentielle Regierungspartner werden Union und SPD die Ampel-Lichter Gelb und Grün mit besonderer Aufmerksamkeit pflegen. Spannend. Am wahrscheinlichsten wäre dann wohl ein grüner Präsident. Das gab’s noch nicht. Welcome back, Joschka?

II.
Kurt Beck, der achte SPD-Vorsitzende seit Willy Brandts Rücktritt 1987 (dazwischen: Vogel, Engholm, Scharping, Lafontaine, Schröder, Müntefering, Platzeck), hat die Aufgabe, das Erbe der sieben rot-grünen Jahre zu bewahren, den Wiederaufstieg der SPD nach vielen regionalen Wahldesastern in der Ära Schröder/Fischer und dem Absturz in die Große Koalition zu organisieren – und selbst Kanzler einer SPD-geführten Bundesregierung zu werden. Daran arbeitet er, und das ist schwer genug:

  • In seiner Amtszeit wurden die drei zur Wahl stehenden SPD-geführten Länder Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Bremen verteidigt; bei drei weiteren Wahlen zwei absolute CDU-Mehrheiten gebrochen (Hessen, Hamburg; Niedersachsen unverändert CDU/FDP).
  • Die seit 1999 vor sich hin stotternde Grundsatzprogramm-Debatte kam mit dem noch einmal gründlich durchgearbeiteten Hamburger Programm 2007 zu einem guten Ende. Stark hier: Primat der Politik, Bekenntnis zu öffentlichen Gütern, stärker steuerfinanzierte Sozialsysteme, vorsorgender Sozialstaat, konstruktive Kritik am globalen Kapitalismus, Klimaschutz, Werben für eine solidarische Mehrheit …
  • Der Umbau der engeren Parteiführung, dem vier, teilweise sehr blasse, stellvertretende Parteivorsitzende zum Opfer fielen, ging erstaunlich geräuschlos über die Bühne.
  • Mit der erneuten Verlängerung der Zahldauer des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmer hat sich die SPD nicht von ihrer eigenen erfolgreichen Reformpolitik verabschiedet, sondern das Basta des alten Kanzlers sehr sichtbar zurückgenommen: Wir sind und bleiben Revisionisten, zur Diskussion, Kritik und Korrektur fähig. Im Ãœbrigen war damit der Denunziation von CDU-Arbeiterführern und Linkspartei-Populisten der Boden entzogen, ein Hindernis für einen offensiven (und nicht defensiv-rechthaberischen) Wahlkampf 2009 beseitigt.
  • Hierzu passt auch der erste Erfolg in der schon von Franz Müntefering begonnenen Mindestlohn-Debatte.

War die Zeit um 1998 noch beflügelt von marktradikalen Illusionen und neoliberaler Ideologie (Deregulierung, Steuersenkung, Privatisierung), so wandelte sich schon unter Rot-Grün der gesellschaftliche Mainstream von der Anbetung des harten Primats der Ökonomie (Clintons Berater: It’s the economy, stupid!) zu weicheren Themen, family values. In kaum einem Politikfeld konnten binnen so kurzer Zeit aufgrund systematischer Vorarbeit so viele sozialdemokratische Reformen in großem gesellschaftlichen Konsens eingeleitet werden wie in der Familienpolitik (Elternzeit, Ganztagsschule, Krippenausbau, Elterngeld). Für die Integrationspolitik zugunsten der Mitbürger mit Migrationshintergrund würden wir uns solchen Schwung nun auch wünschen.

Mit der Renaissance des Staates (Rekommunalisierung privatisierter Versorgungsunternehmen, Ausbau der Kinderbetreuung, höhere Steuerquote), der nach den Börsen-Pleiten, New-Economy-Crashs, Finanzmarkt-Katastrophen, Selbstbereicherungs- und Korruptionsskandalen des Top-Managements gar nicht mehr so ineffizient, dumm und altmodisch ausschaut wie noch vor zehn Jahren, kommt ein neues Themenbündel auf die Politik zu: die Verantwortung der Wirtschaft, die demokratische Gestaltung ökonomischer und internationaler Zusammenhänge, Fragen nach der Moral des spekulativen Kapitalismus.