Rede von Hans-Peter Bartels vor dem Deutschen Bundestag am 16. Oktober 2003

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Einmal mehr befassen wir uns heute in diesem Hause auf Antrag der FDP-Fraktion mit der Aussetzung der Wehrpflicht,

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Und nicht das letzte Mal!)

offenbar einem Herzensanliegen der Liberalen. Denn bereits in der vergangenen Wahlperiode haben sie drei Anträge gleichen Inhalts in den Bundestag eingebracht. Eine Mehrheit haben sie dafür nicht gefunden. Sie werden sie auch heute nicht erhalten. Unsere Position, die Wehrpflicht beizubehalten, hat nichts von ihrer Richtigkeit verloren.

Viele Argumente tragen Sie nicht dagegen vor. Ganze zehn Zeilen – Überschrift und Datum schon mitgezählt – umfasst der Text Ihres Antrags: Sicherheitspolitisch sei die Wehrpflicht nicht mehr erforderlich; mangelnde Dienstgerechtigkeit entziehe ihr die gesellschaftliche Akzeptanz.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: So ist es!)

Vielleicht fällt die Begründung Ihrer Forderung deshalb so kurz aus, weil Sie sich selbst der Argumente für eine Abschaffung der Wehrpflicht nicht so sicher sind.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Den Antrag muss man nicht extra schriftlich begründen! Er ist so gut!)

Ich verstehe das, weil Ihre Ablehnung erst neueren Datums ist.

Sie haben in dieser Frage in den vergangenen Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Wolfgang Gerhardt antwortete 1995 jenen, die nach dem Ende des Kalten Krieges die Wehrpflicht infrage stellten:

Die Verteidigung unserer Freiheit muss auch in Zukunft die Angelegenheit aller bleiben. Der Schutz von Freiheit und Recht ist nicht ausschließlich als Leistung von Berufssoldaten zu verstehen. Theodor Heuss hat die Wehrpflicht deshalb zu Recht als legitimes Kind der Demokratie bezeichnet. Der frühere Bundespräsident hat sie als konstitutives Merkmal unserer Streitkräfte genannt.

Wir sprechen uns für die Beibehaltung der Wehrpflicht aus. Sie ist Ausdruck des Willens einer Demokratie, die Verteidigung der Freiheit als ständige Aufgabe in der gesamten Gesellschaft zu verankern. Wir werden den Gedanken der Wehrpflicht nicht aufgeben, nur weil es schwieriger geworden ist, eine Wehrpflichtarmee zu organisieren.

So Herr Gerhardt.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Guter Mann!)

Ich sage: Richtig! Deshalb bleiben wir bei der Wehrpflicht und werden Ihren Antrag ablehnen.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wir sind inzwischen bedeutend weiter! Denken Sie einmal an die neuen Aufgaben!

Ihr Sinneswandel erfolgte im Sommer 2000. Er ging sehr schnell. Noch kurz vor der parlamentarischen Sommerpause, am 7. Juni 2000, hat die FDP einen Entschließungsantrag ins Parlament eingebracht, in dem ihre Fraktion sich für eine Reduzierung des Wehrdienstes auf maximal sechs Monate aussprach. Von einem Ende der Wehrpflicht war damals noch keine Rede.

Aber kaum war die Sommerpause vorüber, überraschten Sie uns am 11. Oktober mit einem neuen Antrag, in dem nun die Aussetzung der Wehrpflicht gefordert wurde. Dazwischen lag ein Parteitag, der – so kann man der Presseberichterstattung entnehmen – von der damals in Ihrer Partei populären „Projekt 18“-Euphorie geprägt war.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Hahaha! Wer hat das aufgeschrieben?)

Die „Frankfurter Rundschau“ kommentierte damals treffend,

dass gravierende inhaltliche Positionsveränderungen allerdings einen höheren Glaubwürdigkeitsgehalt erreichten, könnte man sie denn von dem Verdacht befreien, sie seien doch nur Revuenummern in einer großen Profilierungsshow.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir Sozialdemokraten haben uns im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2002 ausdrücklich für die Wehrpflicht ausgesprochen. Aber natürlich sehen wir, dass die Welt und das sicherheitspolitische Umfeld sich gewandelt haben und weiter wandeln und dass dies nicht ohne Folgen für die Bundeswehr bleiben kann. Deshalb ist es richtig, die Wehrform immer wieder auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen, wie es im Koalitionsvertrag unserer rot-grünen Regierung steht. Deshalb hat die Bundesregierung seit ihrem Amtsantritt 1998 weit reichende Reformen der Streitkräfte auf den Weg gebracht.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Gerade dabei, nachzubessern!)

Das ist kein einfacher Prozess, der auch nicht in kurzer Zeit jedes Problem löst, doch wir sind auf dem richtigen Kurs. Die Reform muss übrigens bei voller Fahrt vorgenommen werden, denn parallel zum Umbau der Streitkräfte sind mehr als 8 000 Soldaten im Auslandseinsatz.

Seit Beginn unserer Regierungszeit sind Anforderungen an die Bundesrepublik Deutschland hinzugekommen, die sich vorher niemand hätte träumen lassen: Einsätze gegen den Terrorismus wie auch unsere Beteiligung an der ISAF-Truppe in Afghanistan, weit außerhalb des alten NATO-Gebiets – out of area, wie man früher sagte. Natürlich leisten Wehrpflichtige und auch Zeitsoldaten in Deutschland einen Beitrag zum Kampf gegen den Terrorismus, wenn sie Kasernen unserer amerikanischen Verbündeten bewachen.

(Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Richtig!)

Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Das ist nicht einfach ein Dienst, den man schlicht abschaffen kann.

Der Bundesminister der Verteidigung hat deshalb im Mai neueVerteidigungspolitische Richtlinien mit Vorgaben für den künftigen Weg der Bundeswehr festgelegt.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Haben Sie sie gelesen?)

Jetzt sind wir dabei, die Weiterentwicklung der Bundeswehr zu konkretisieren. Peter Struck hat in seinem Hause die entsprechende Weisung erlassen. Er hat sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich dafür ausgesprochen, an der Wehrpflicht von neun Monaten festzuhalten, sie aber neu auszugestalten und den neuen Strukturen und Aufgaben der Bundeswehr anzupassen. Die SPD-Fraktion begrüßt die Schritte, die der Minister beabsichtigt, auch sein Bekenntnis zur Wehrpflichtarmee.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wo bleibt der grüne Partner?)

Wir Verteidigungspolitiker der SPD-Fraktion haben uns im Juli ebenfalls deutlich für die Beibehaltung der Wehrpflicht ausgesprochen,

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Deshalb wurde die Abstimmung verschoben!)

verbunden mit der Feststellung, dass der Wehrdienst sich den veränderten politischen Rahmenbedingungen anpassen muss. Nur eine Wehrpflicht, die auf der Höhe der Zeit ist, wird Bestand haben. Wichtig ist für uns: Die Ausgestaltung des Dienstes, Ausbildung und Aufgaben haben sich an den militärischen Erfordernissen zu orientieren.

Lassen Sie mich einige Worte zum verfassungsrechtlichen Rahmensagen, weil in der öffentlichen Diskussion, auch von Ihnen, oft der falsche Eindruck erweckt wird,

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das kann überhaupt nicht sein!)

allein die sicherheitspolitische Notwendigkeit des Kalten Krieges habe die Wehrpflicht begründen können.

Das Grundgesetz hat die Entscheidung zwischen Wehrpflichtarmee und Freiwilligenheer ausdrücklich dem Gesetzgeber überlassen. Wir in diesem Hause haben diese politische Entscheidung zu treffen. Selbst wenn Ihre Prämisse richtig wäre, dass die sicherheitspolitische Lage keine Wehrpflicht mehr erfordere – was ich bestreite, aber natürlich kann man darüber diskutieren –, würde sich hieraus kein Automatismus für ihre Abschaffung ergeben.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Deshalb haben wir nun auch den Antrag gestellt! Das wissen wir auch selbst!)

– Das ist Ihnen unbenommen. Es ist mir immer wieder eine Freude, mit Ihnen darüber zu diskutieren. Ich bin mir auch sicher, dass dies, nachdem Sie in der letzten Legislaturperiode drei Anträge gestellt haben, nicht der letzte gewesen sein wird.

Die Entscheidung für oder gegen die Wehrpflicht ist, so das Verfassungsgericht, eine grundlegende staatspolitische Entscheidung, die auf wesentliche Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einwirkt und bei der der Gesetzgeber neben verteidigungspolitischen Gesichtspunkten auch allgemeinpolitische, wirtschafts und gesellschaftspolitische Gründe zu bewerten und gegeneinander abzuwägen hat. Dazu sind wir verpflichtet. Nach Abwägung aller Argumente sprechen nach unserer Auffassung auch unter den geänderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen fast fünf Jahrzehnte nach ihrer Einführung gute Gründe für die Beibehaltung der Wehrpflicht.

Die Wehrpflicht sichert die Professionalität der Bundeswehr. 40 bis 50 Prozent aller Zeit- und Berufssoldaten entschließen sich während des Grundwehrdienstes für ein längerfristiges Engagement in den Streitkräften. Gerade vor dem Hintergrund der teilweise erheblichen Probleme zum Beispiel unserer NATO-Partner ohne Wehrpflicht, neues und vor allem qualifiziertes Personal zu gewinnen, ist dies ein nicht zu unterschätzender Vorteil des Wehrdienstes.

Wehrpflichtige bringen ein großes Potenzial an allgemeiner und fachlicher Bildung mit. 30 Prozent der Grundwehrdienstleistenden haben die mittlere Reife, 30 Prozent die Fachhochschulreife oder Abitur, fast 40 Prozent eine abgeschlossene Berufsausbildung. Die Wehrpflicht hat einen entscheidenden Anteil an der Professionalität unserer Bundeswehr.

Auch die Möglichkeit, kurzfristig im Inland auf eine größere Zahl von Soldaten zurückgreifen zu können, hat ihren Sinn keineswegs gänzlich verloren. Dies gilt für denkbare Bedrohungen durch den Terrorismus ebenso wie für Naturkatastrophen oder Unglücke.

Vielleicht ist es auch hilfreich, sich ein paar Zahlen zu vergegenwärtigen: Mehr als 8 Millionen junge Männer haben in der Bundeswehr seit ihrer Gründung gedient. Die Wehrpflicht sorgt – auch heute – in jedem Jahr für den stetigen Austausch von rund 100 000 jungen Soldaten; das ist ein gutes Drittel der gesamten Streitkräfte. Dadurch bleibt die enge Verbundenheit von Bundeswehr und Gesellschaft gewahrt. Dies ist in Zeiten, in denen unsere Soldaten weit über die Grenzen NATO-Europas hinaus einen schwierigen und gefährlichen Dienst versehen, wichtiger als je zuvor.

Es besteht ja nicht nur die Gefahr, dass sich das Militär von der Gesellschaft abkapselt – das ist heute wirklich nicht unser Problem –, sondern auch, dass sich die Gesellschaft von der Bundeswehr abwendet, dass das Militärische dem Zivilen fremd wird. Dem beugt die Wehrpflicht mit ihren Grundwehrdienstleistenden und ihren FWDLern erfolgreich vor. Das haben auch Sie wahrscheinlich einmal so gesehen, aber heute vertreten Sie eine andere Position.

Das mag auch dazu beitragen, dass wir in Deutschland uns mit Auslandseinsätzen manchmal schwerer tun und die Bevölkerung sich stärker damit beschäftigt als in manchen anderen Ländern. Das ist kein Nachteil. Im Gegenteil, bei uns ist es mittlerweile eine gute, verfassungsfeste Tradition, dass Beschlüsse über Auslandseinsätzevom Parlament gefasst werden. Das ist gut so und das bleibt so.

Mit der Wehrpflicht stehen immer auch der Zivildienst und die Ersatzdienste bei freiwilligen Feuerwehren oder dem Technischen Hilfswerk zur Disposition. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt bestätigt, dass die Politik die Auswirkungen auf denZivildienst in Betracht ziehen darf. Aus meiner Sicht muss sie das auch. Allerdings kann – das ist klar – der Zivildienst nicht zur Legitimation der Wehrpflicht als solcher herangezogen werden.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das tut der Minister aber!)

– Das tut der Minister nicht.

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Doch! These 26! Da ist das genau aufgeführt!)

– Natürlich muss das abgewogen werden. Auch das gehört in diesen Zusammenhang. Bei 34 Punkten ist 26 ja eine gute Nummer. Das ist ein wichtiger Punkt. Deshalb erwähne ich das auch hier.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch wenn es vielleicht in manchen Ohren etwas altmodisch klingen mag, möchte ich noch einen anderen guten Aspekt der Wehrpflicht nennen: Jeder taugliche Mann im entsprechenden Alter ist verpflichtet, Wehr-, Zivil- oder Ersatzdienst zu leisten. Das ist bindend, eine Pflicht, die vielleicht als überholt und nicht mehr zeitgemäß empfunden werden mag. In einer Zeit aber, in der persönliche Interessen zunehmend über das Gemeinwohl gestellt werden, wäre es das falsche Signal, einen verbindlichen und sinnvollen Dienst an der Gesellschaft aufzukündigen.

Aus den Gründen, die ich genannt habe, werden wir Sozialdemokraten die Wehrpflichtarmee nicht leichtfertig aufgeben. Auch 46 Jahre nach ihrer Einführung spricht vieles für sie. Dass ihre Ausgestaltung den jeweiligen militärischen Erfordernissen angepasst werden muss, ist nicht neu. So war es immer. Deswegen variierte, um ein Beispiel zu nennen, die Dauer des Grundwehrdienstes in Abhängigkeit von der sicherheitspolitischen Lage: Mal waren es zwölf, mal 18, zu meiner Zeit 15, mal zehn Monate; jetzt sind es neun Monate. Wir bleiben mit der Wehrpflicht flexibel. Eine kurzfristige Aussetzung

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das will doch keiner! Das wissen Sie doch ganz genau! Schauen Sie sich den Antrag doch einmal an!)

ohne Rücksicht auf die Auswirkungen, wie Sie in Ihrem Antrag fordern, lehnen wir ab.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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