Rede von Hans-Peter Bartels vor dem Deutschen Bundestag am 20. Januar 2005

Damit es Ihnen, liebe Kollegen von der FDP, nicht langweilig wird, wenn wir Ihre regelmäßigen „Weg mit der Wehrpflicht“-Anträge hier im Plenum immer wieder mit großer Mehrheit ablehnen, will ich Ihnen als Argumentationshilfe heute das Zentralorgan des liberalen Geistes in Deutschland entgegenhalten, die unerschütterliche „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Die ist nämlich der Meinung, Ihre Forderung nach Aussetzung der Wehrpflicht sei Ausdruck Ihres grundsätzlichen Politikverständnisses. Vor einem Jahr, am 8. Januar 2004, schrieb ein Leitartikler in der „FAZ“ sehr richtig: „Westerwelle und große Teile der FDP-Führung beschränkten ihren Liberalismus zuletzt auf eine ziemlich vordergründige ,Weg mit dem Staat‘-ldeologie und auf einen Abschaffungsenthusiasmus, der Regellosigkeit mit Freiheit leicht verwechselt: Weg mit allen Subventionen, weg mit der Wehrpflicht, weg mit der Pflegeversicherung, weg mit den Flächentarifverträgen, dem Ladenschlussgesetz, dem Hochschulrahmengesetz, weg mit der Kultusministerkonferenz.“ Dem Urteil des „FAZ“-Leitartikels kann ich nur zustimmen, wenn er fortfährt: „Westerwelle hat in den vergangenen Jahren versucht, seine Lesart des Liberalismus zu popularisieren, und dabei die traditionsreiche Partei des leistungsbereiten und in demokratischem Verantwortungsgefühl verwurzelten Bürgertums einem billigen Effektpopulismus unterworfen.“

So ist es: Der vorliegende Antrag der FDP ist ein schönes Beispiel für „billigen Effektpopulismus“. Dafür aber ist das Thema eigentlich zu wichtig. Auch wir Sozialdemokraten beschäftigen uns derzeit, durchaus öffentlich wahrnehmbar, mit der Zukunft der Wehrpflicht. Warum? Weil die Sicherheitslage sich seit Ende des Kalten Krieges fundamental geändert hat. Wer wollte das bestreiten? Dass sich daraus jedoch ein Automatismus zur Abschaffung der Wehrpflicht ergeben soll, kann ich nicht erkennen.

Auch das neue, ungeteilte Europa ist nicht frei von Bedrohungen. Die blutigen Balkan-Konflikte haben uns vor Augen geführt, dass Krieg nicht einfach von unserem Kontinent verschwunden ist. Die terroristischen Anschläge des 11. September 2001 haben gezeigt, dass unsere Welt neuen Bedrohungen ausgesetzt ist, stärkeren, als wir erwartet hatten. Diese Erfahrungen machen eines ganz deutlich: Tief greifende Änderungen der sicherheitspolitischen Lage sind auch kurzfristig nie auszuschließen. Sowohl das Ende des Warschauer Paktes als auch die neue asymmetrische Bedrohung durch den internationalen Terrorismus veränderten die Lage rasant, beinahe von heute auf morgen.

Deshalb ist richtig, was in den 2003 vom Bundesverteidigungsminister erlassenen Verteidigungspolitischen Richtlinien nachzulesen ist: „Der Wiederaufbau der Befähigung zur Landesverteidigung gegen einen Angriff mit konventionellen Streitkräften innerhalb eines überschaubaren längeren Zeitrahmens – Rekonstitution – muss … gewährleistet sein.“ Weil dies so ist, bleibt die Wehrpflicht sicherheitspolitisch die sicherste Lösung.

Wir sollten uns auch dessen bewusst sein, dass immer die latente Gefahr besteht, dass sich die Lage in den Einsatzgebieten innerhalb kurzer Zeit zuspitzt. Das hätte weitreichende Folgen, nicht nur für die betroffenen Soldaten, sondern für die Bundeswehr insgesamt. Wären wir sicher, dass die Nachwuchsgewinnung einer Freiwilligenarmee dann noch funktioniert? Ich warne vor dem vorschnellen Urteil, die Wehrpflicht sei antiquiert. So berechenbar ist die vor uns liegende Zeit nicht.

Der Verteidigungsminister hat in den Verteidigungspolitischen Richtlinien die sicherheitspolitischen Vorgaben für den künftigen Weg der Bundeswehr festgelegt. Vieles wird sich ändern: Aufgaben, Strukturen, Ausrüstung. Wir sind mitten in diesem Prozess. Die Transformation wird auch die Wehrpflicht nicht unberührt lassen. Auf der Tagesordnung steht ihre Weiterentwicklung zu einer, wie es in den Richtlinien heißt, „Wehrpflicht in angepasster Form“. Eine angepasste Wehrpflicht bleibt Teil der staatlichen Sicherheitsvorsorge in einer unübersichtlichen Welt.

Verschiedene Modelle sind in der Diskussion. Auch in der Union sind Stimmen zu hören, die Wehrpflicht gehöre „auf den Prüfstand“, wie es vor einigen Wochen der Junge-Union-Vorsitzende Mißfelder forderte. Gelegentlich ist aus Unionskreisen die Forderung nach einer allgemeinen Dienstpflicht statt der bisherigen Wehrpflicht zu hören.

Auch vom „dänischen Modell“ ist derzeit viel zu lesen. So sympathisch mir als Schleswig-Holsteiner unser nördlicher Nachbar ist: Dieses Etikett stiftet unnötig Verwirrung, führt zu falschen Schlüssen. Das Modell ist nicht übertragbar. Wir sollten, anders als in Dänemark, die Dauer des Wehrdienstes nicht weiter verkürzen. Vier Monate wären deutlich zu kurz. Auch bei der Besoldung und den Ausbildungsinhalten gehen die Dänen einen anderen Weg.

Wenn wir die Wehrpflicht weiterentwickeln, wird es am Ende ein deutsches Modell geben müssen – und keine Wehrpflichtlotterie. Da ist Ihre Sorge völlig unbegründet, Herr Nolting.

All jenen, die so ungeduldig eine Berufsarmee fordern, sei noch einmal in Erinnerung gerufen, welche eindeutigen Vorteile die Wehrpflicht hat. Nur durch sie ist es möglich, dass alle männlichen Angehörigen eines Jahrgangs die Ausgangsbasis für die Deckung des Personalbedarfs darstellen. Für alle ist der Dienst in der Bundeswehr – oder Ersatz- oder Zivildienst – ein verbindliches Thema in dieser Lebensphase. Eine Vorabsozialauswahl findet nicht statt. Alle werden erfasst, alle werden gemustert, alle müssen sich zur Frage einer möglichen Einberufung (oder KDV etc.) persönlich verhalten. Die allgemeine Wehrpflicht sichert die Qualität der Personalauswahl, sie garantiert die Bedarfsdeckung in jedem Fall – unabhängig von der aktuellen Lage auf dem Arbeitsmarkt für männliche Jugendliche, unabhängig von der Sicherheitslage. Und es ist oft gesagt worden und bleibt richtig: Die Wehrpflicht stellt die beste denkbare Klammer zwischen Gesellschaft und Bundeswehr dar. Denn Soldat sein ist kein „Job“, keine beliebige Dienstleistung. Deshalb ist es legitim, dass die Bundeswehr mit der Wehrpflicht über eine andere Rekrutierungsmöglichkeit verfügt als ein Wirtschaftsunternehmen.

Das Problem der angeblich abnehmenden Dienstgerechtigkeit, das gern in den Mittelpunkt der Debatte gerückt wird, war übrigens, allen anders lautenden Parolen zum Trotz, bis in die jüngste Vergangenheit ein Mythos. Viel beschworen, aber durch die Zahlen nicht gedeckt. Von dem im Jahr 1980 vollständig ausgeschöpften Geburtsjahrgang 1952 mit 381 000 Erfassten haben 54 Prozent Wehrdienst als W15 oder Zeitsoldat geleistet, hinzu kamen 3 Prozent anerkannte Kriegsdienstverweigerer und 5 Prozent, die zur Polizei gingen oder sich beim Katastrophenschutz verpflichteten. Macht zusammen 62 Prozent

Gut 20 Jahre später waren die Zahlen nicht wesentlich anders: Vom dem im Jahr 2003 ausgeschöpften Geburtsjahrgang 1980 sind insgesamt 66 Prozent ihrer Pflicht nachgekommen. Die weit überwiegende Zahl der jungen Männer eines Jahrgangs hat ihre Wehrpflicht also auf die eine oder andere gesetzlich vorgesehene Weise erfüllt.

Absolute Gerechtigkeit kann es natürlich nie geben, denn ausschlaggebend für die Zahl der Einberufungen ist immer der Bedarf der Bundeswehr – das kann gar nicht anders sein.

In Zukunft wird der jährliche Bedarf der Bundeswehr an neuen Soldaten, bedingt durch die Verkleinerung der Streitkräfte, sinken. Deshalb machen wir uns Gedanken, wie wir die Wehrpflicht den neuen Bedingungen noch besser anpassen können.

Das heißt: Wehrpflicht – ja; FDP-Antrag – nein.

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