Gastbeitrag von Hans-Peter Bartels in der Financial Times Deutschland vom 4.1.2008

Deutschland will eine eigene Raketenabwehr aufbauen. Das ist überfällig — ersetzt aber keine politische Strategie zur Friedenssicherung

Die geplante Stationierung eines amerikanischen Raketenabwehrsystems in Osteuropa war eines der brisantesten außenpolitischen Themen des vergangenen Jahres. Von einem neuen Wettrüsten war die Rede, sogar von der Gefahr eines Dritten Weltkriegs. Weithin unbeachtet hat der Deutsche Bundestag dagegen im November ein wichtiges Rüstungsvorhaben gebilligt, das für Deutschland den längst überfälligen Einstieg in eine eigene Raketenabwehrfähigkeit bedeutet.

Kernstück des Abwehrsystems sind 24 moderne Patriot-Abfangraketen PAC-3, die bis zum Jahr 2010 für 80 Mio. € angeschafft werden. Die Luftwaffe verfugt dann erstmals über die Fähigkeit, Mittelstreckenraketen der Reichweitenklasse bis 1000 Kilometer sicher bekämpfen zu können. Mit der bestehenden, noch aus dem Kalten Krieg stammenden Patriot-Technik der Luftwaffe, ist eine ganzheitliche Luftabwehr nicht zu leisten. Insgesamt 500 Mio. € lässt sich der Bund deshalb die Modernisierung kosten.

Dabei geht es nicht allein darum, Gefahren von deutschem Boden fernzuhalten. Auch internationale Stabilisierungsmissionen wie in Afghanistan müssen gegen mögliche Luftschläge feindseliger Nachbarn so immun sein, wie es die moderne Technik ermöglicht. Deutschland beteiligt sich daher keineswegs an einem internationalen Wettrüsten. Es stellt sich auf die Realitäten und Gefahren des 21. Jahrhunderts ein.

Wie ineffektiv die bestehende Patriot-Technik der Bundeswehr ist, zeigte sich auf dramatische Weise während des ersten Golfkriegs 1991. Damals hatte Deutschland Israel Teile seines Luftabwehrsystems geliehen. Diese Batterien konnten jedoch selbst gegen Saddam Husseins veraltete Scud-Raketen wenig ausrichten. Hätte Saddam biologische oder nukleare Gefechtsköpfe einsetzen können, wäre die Wirkung in Israel verheerend gewesen. Seit damals ist die Zahl der Staaten, die sowohl über Massenvernichtungswaffen als auch über moderne Trägermittel – Raketen und Marschflugkörper – verfügen, noch gestiegen. Am größten ist die Konzentration dieser Bedrohungspotenziale nicht mehr in Mitteleuropa, sondern in Mittelasien, der instabilsten Region der Welt. Wir dürfen diese Gefahren nicht ignorieren.

Die Raketenabwehr, um die es der Bundeswehr geht, ist nicht zu verwechseln mit dem strategischen und unilateral außerhalb der Nato vorangetriebenen Missile-Defense-Projekt (MD) der USA. Dieses zielt auf den Schutz des amerikanischen Homeland durch ein weltweit installiertes stationäres System. Dass dieser Raketenabwehrschirm unter bestimmten Umständen auch Raketen stoppen könnte, die auf europäische Ziele gerichtet sind, wäre eher ein Nebeneffekt – wenngleich die Amerikaner mit diesem Argument bei ihren Verbündeten für ihr umstrittenes Projekt werben.

MD ist zunächst gegen die wenigen weit reichenden Schahab- und Taepodong-Raketen potenzieller Schurkenstaaten wie Iran und Nordkorea gerichtet, ist aber ausbaufähig gegen russische oder chinesische Drohpotenziale. Deren Einhegung sollte aus deutscher Sicht jedoch nicht technisch, sondern politisch gesucht werden, und das kooperativ im Rahmen von Nato, EU und Uno.
Bei der Nato gibt es ohnehin bereits Aktivitäten zur Raketenabwehr: das deutsch-italienisch-amerikanische Meads-Projekt, für dessen Entwicklung und Beschaffung von deutscher Seite rund 4 Mrd. € einkalkuliert sind. Meads soll leicht verlegefähig sein und mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit näher kommende Raketen größerer Reichweite im Hit-to-Kill- Verfahren mit PAC-3-Flugkörpern zerstören können. Das hört sich im Computerspielzeitalter wie eine Selbstverständlichkeit an, aber die Aufgabe ist anspruchsvoller, als eine Gewehrkugel mit einer Gewehrkugel zu treffen.

Willy Brandt hat einmal gesagt: Ohne Frieden ist alles nichts. Deshalb sollte bei aller Sicherheit, die Flugabwehrsysteme verheißen, nicht vergessen werden, dass der effektivste Schutz immer noch gute Nachbarschaft im globalen Dorf ist. Wir in Europa sind inzwischen ein gutes Beispiel dafür.